Eine drastische Verschiebung und Reduzierung des Bürgerfunks demontiert ein in 16 Jahren gewachsenes vielfältiges Beteiligungsmodell, das bundesweit einzigartig ist. Dabei brächte diese Demontage nicht einmal den gewünschten wirtschaftlichen Vorteil. Die ökonomische Situation der Lokalsender hängt von ganz anderen Faktoren ab. Zahlen, Daten und Fakten zum Bürgerfunk in NRW.

Eine Zusammenstellung von Martin Wißmann, Bistumsstudio West Bocholt

Bürgerfunk ist kein wirtschaftlicher Störfaktor

– „Trotz“ Bürgerfunk ist das System der NRW-Lokalradios quasi der umsatzstärkste Einzelsender Deutschlands: 2005 konnte es seinen Umsatz überdurchschnittlich um mehr als 20 % steigern und erzielte mit fast 70 Mio. Euro einen neuen Umsatzrekord.

– Unter den zehn Lokalradios mit den höchsten Reichweiten in NRW lt. EMA 2006/1 waren zu dem Zeitpunkt fünf, bei denen der Bürgerfunk täglich um 18 oder 19 Uhr begann und weitere drei, die Bürgerfunk am Wochenende ab 18 Uhr sendeten; bei den meisten der zehn Spitzenreiter gibt es zudem eine große Ausnutzung der Bürgerfunksendezeiten. Das Bürgerfunkvolumen in den 46 Verbreitungsgebieten landesweit liegt bei bis zu 16 Stunden in der Woche, also bei bis zu mehr als zwei Stunden täglich.

– Radio Hagen als einer der quotenstärksten Sender hatte lt. EMA 2006/1 zu Bürgerfunkbeginn um 18 Uhr mehr Hörer als während des Lokalprogramms ab 17 Uhr; bei Radio Essen, dem einzigen Sender mit Bürgerfunk am Vormittag, steigt ebenfalls während dieser Zeit die Hörerquote.

– Die Bürgerfunksendezeiten waren für Werbetreibende im Kreis Recklinghausen so attraktiv, dass der Sender dort zeitweise Werbeblöcke innerhalb von Bürgerfunksendungen verkaufen konnte.

– Die ausgeweiteten Arbeits- und Ladenöffnungszeiten haben übrigens dazu geführt, dass in dieser Zeit weniger und nicht mehr Radio gehört wird; sie können deshalb nicht als Begründung für eine Verschiebung des Bürgerfunks angeführt werden.

– Wer abends ab- oder umschaltet, weil ihn eine einzelne misslungene Bürgerfunksendung ärgerte, wird morgens dann wieder das Lokalradio einschalten, wenn das redaktionelle Eigenprogramm überzeugend und attraktiv ist, denn das Lokalradio hat auf seiner Ebene keine ebenbürtige Konkurrenz.

Bürgerfunk ist erfolgreich

– Bürgerfunk ist seit mehr als 15 Jahren wesentlicher Bestandteil der nordrhein-westfälischen Medienlandschaft.

– Mehr als 2.000 Gruppen produzieren jährlich in 140 Radiowerkstätten mehr als 10.000 Bürgerfunksendungen.

– Es beteiligen sich gewerkschaftliche, kirchliche, kulturelle, ökologische, politische, soziale, sportliche und weitere gesellschaftliche Gruppen; sie haben hier einen einzigartigen Kanal für ihre Öffentlichkeitsarbeit gefunden und produzieren Beiträge zum breitem Spektrum möglicher Themen und Positionen im Verbreitungsgebiet.

– Bürgerfunk artikuliert Interessen von Minderheiten, von Benachteiligten und Betroffenen.

– Bürgerfunk bietet der örtlichen Musik- und Kulturszene eine Zusatzbühne und schafft Raum für ausführliche Informationen, narrative Formen und Hörspiele oder experimentelles Radio.

– Bürgerfunk ergänzt das Programm des Lokalsenders und schärft sein lokales Profil.

– Bürgerfunksendungen informieren, beraten, unterhalten und bilden die Hörer.

– Bürgerfunk bringt Menschen zusammen und verbindet die Generationen.

– Bürgerfunk ermöglicht und fördert ehrenamtliches Engagement.

– Bürgerfunk vermittelt Medienkompetenz: bisherige Hörer blicken hinter die Kulissen, erkennen mediale Eigenarten und Manipulationsmöglichkeiten und werden selbst zu Produzenten.

– Viele Bürgerfunkgruppen und Radiowerkstätten arbeiten selbstkritisch, qualitätsbewusst und innovativ.

Bürgerfunk ist unverzichtbar

– Gruppen brauchen eine Möglichkeit, sich unmittelbar und ungefiltert an eine möglichst breite Hörerschaft zu wenden; dies ist nur im Bürgerfunk möglich, wo die Bürgerfunker mit der Hörererbschaft ein breites Auditorium ansprechen können; bei Leserbriefen in Zeitungen können Redaktionen filtern; bei allen anderen Medien müssten Bürger sich ihre Hörerreichweite/ Empfängergruppe selbst generieren, deshalb sind internetgestützte Kanäle (Podcast, Blog) keine adäquate Alternative.

– Da örtliche Verleger mit ihren Lokalzeitungen und ihrem Lokalfunk ein lokalpublizistisches Doppelmonopol haben, ist Bürgerfunk unverzichtbare Vielfaltsreserve (Argumentation des Bundesverfassungsgerichts).

– Viele Lokalsender haben ohne Bürgerfunk bis auf die Lokalnachrichten und wenige Kurzberichte sowie lokale Werbspots nichts Lokales im Programm.

Bürgerfunk braucht attraktive Sendezeiten

– Wenn Partizipation am Medium Radio ernst gemeint ist, brauchen Bürgerfunker eine Chance auf eine große Hörerreichweite für Sendungen, die sich an eine möglichst breite Hörerschaft richten.

– Sendungen von und für Vorschulkinder oder Familien dürfen nicht erst dann ausgestrahlt werden, wenn die Kleinen schlafen sollen.

– Wer den Bürgerfunk immer weiter in den späten Abend verschiebt, demotiviert Gruppen, die sich an viele Hörer richten und sorgt dafür, dass mehr rein zielgruppenorientierte Bürgerfunksendungen entstehen.

– Jede Verschiebung des Bürgerfunks in hörerärmere Zeiten ist ein Schritt zur Abschaffung des Bürgerfunks.

– Ein wünschenswerter, landesweit einheitlicher Sendebeginn um 18 oder spätestens 19 Uhr sollte möglichst örtlich angepasste Zusatzvereinbarungen offen lassen.

– Die Erwartbarkeit von Bürgerfunk darf nicht beliebig werden; nur in eng umrissenen Ausnahmefällen sollte die Redaktion des Lokalsenders Bedarf anmelden dürfen, um die übliche Bürgerfunksendezeit mit anderen Programminhalten füllen zu können, wobei adäquate Ersatzsendezeiten für den Bürgerfunk bereitzustellen sind.

– Kürzere Einreichvorgaben seitens der Sender und neue Möglichkeiten, Bürgerfunk live zu senden würden den Bürgerfunkern mehr Aktualität ermöglichen.

Bürgerfunk braucht genug Sendevolumen

– Bewährt hat sich die 15-%-Regelung zum Sendevolumen: mindestens eine Sendestunde bei Lokalsendern mit fünf oder weniger Stunden Eigenprogramm, mindestens zwei Sendestunden bei Lokalsendern mit mehr als fünf Stunden Eigenprogramm.

– Dennoch waren und sind in manchen Verbreitungsgebieten Sendeplätze so knapp, dass Wartezeiten gab und freiwillig mehr Sendeflächen zwischen VG und Bürgerfunkern vereinbart wurden.

– Reduzierung auf landesweit eine Stunde würde vielerorts zu Verdrängungskämpfen zwischen Bürgerfunkern führen.

– Wenn knappe Sendeplätze regelmäßige Sendungen von Gruppen zu erwartbaren Terminen (z. B. jeden Mittwoch, jeden zweiten Donnerstag) unmöglich machen, wird zudem Hörerbindung erschwert.

– Wer Sendeflächen verknappt, demotiviert Bürgerfunkgruppen.

Bürgerfunk braucht Unabhängigkeit

– Eine erzwungene Formatanpassung (ausschließlich wenige und kurze Wortbeiträge, journalistische Ausgewogenheit, leicht verdauliche Themen und Mainstream-Pop-Musik) an das Lokalradioprogramm für alle Bürgerfunksendungen wäre eine extreme Verengung des Gestaltungsfreiraums, die sehr viel von der gewollten Vielfalt verhindern und damit letztlich der Legitimation von Bürgerfunk eine Grundlage entziehen würde.

– Zahlreiche richterliche Entscheidungen haben bestätigt, dass Bürgerfunk einseitig sein darf und dafür bestimmt ist, Meinungen zu transportieren.

– Wenn Bürgerfunk keine Stücke von lokalen Bands, Chören oder Musikgruppen mehr einspielen dürfte, hätten diese keine Bühne mehr im Radio.

– Eine Reduzierung auf ausschließlich deutschsprachige Programmbeiträge würde die Realität der Vielsprachigkeit in vielen Verbreitungsgebieten verkennen und die Chance von Verständigung und Integration vergeben, die in mehrsprachigen Sendungen stecken.

Bürgerfunk braucht einen gesetzlichen Funktionsauftrag

Ein neues Landesmediengesetz sollte klarstellend festschreiben,

– dass Bürgerfunk flächendeckend und zugangsoffen Partizipation gewährleisten muss,

– dass er programmunabhängig die lokale Medienlandschaft publizistisch ergänzen soll und

– dass er aktiv und aktivierend Medienkompetenz vermitteln soll

– darüber hinaus können neue gesetzliche Regelungen die Programmverantwortung für den Bürgerfunk auf die Gruppen und/oder die Radiowerkstätten verlagern.

Bürgerfunk braucht verlässliche Förderung

– Bürgerfunk ist nur möglich, weil viele Träger (Gewerkschaften, Kirchen, Volkshochschulen/ Kommunen, Vereine) Geld- und Sachmittel sowie Personal für die Radiowerkstätten bereitstellen und weil viele Menschen sich hier ehrenamtlich engagieren.

– Um die Bürgerfunkgruppen adäquat medienpädagogisch, journalistisch und hörfunk-technisch beraten und qualifizieren zu können, brauchen die Radiowerkstätten auch künftig eine verlässliche Grundförderung für Sach- und Personalkosten durch die Landesanstalt für Medien; Mittel für Sonderqualifizierungen und Projekte können diese Basisfinanzierung allenfalls ergänzen.

– Auch die Lokalsender müssen verpflichtet bleiben, den Bürgerfunkern Produktionshilfe zu gewähren; wo sie sich dieser Verpflichtung noch entziehen, muss die Landesanstalt für Medien NRW dafür sorgen, dass die gesetzlichen Bestimmungen eingehalten werden.

Zum Bürgerfunk im Lokalfunk gibt es in NRW keine Alternative

– Kein anderes Land bietet Bürgern eine derart bürgernahe mediale Partizipationsmöglichkeit.

– Nirgendwo anders als im Lokalfunk ist bei der derzeitigen Frequenzlage ein flächendeckender lokaler Bürgerfunk in NRW möglich.

– Kein anderer technischer Verbreitungskanal gibt Bürgerfunkern derzeit die Möglichkeit, vergleichbar viele Hörer zu erreichen.